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Soziologe Kurrat: Pilgern bildet eine totale Gegenwelt zum Alltag

Der Soziologe Christian Kurrat von der FernUniversität Hagen berichtete im Haus am Dom über die moderne Pilgerforschung. Foto: DVM/Amtage
Der Soziologe Christian Kurrat von der FernUniversität Hagen berichtete im Haus am Dom über die moderne Pilgerforschung. Foto: DVM/Amtage

Minden (DVM). Das Pilgern bildet eine totale Gegenwelt zum Alltag. Diese These vertritt der Soziologe Christian Kurrat von der FernUniversität Hagen. Bei einem Vortrag im Haus am Dom stellte der Wissenschaftler neueste Ergebnisse der noch jungen Pilgerforschung vor.

Gesteigerte Sinneswahrnehmungen statt eines gesteigerten Nervenlebens. Eine simple Tagesstruktur statt der Planung komplexer Zeitstrukturen. Reduktion und Teilen statt Besitz und Überfluss. Dieses sind nur einige Punkte, die Kurrat in seiner These von der Gegenwelt verdeutlichte. Der Vortrag des Pilgerforschers bildete den Abschluss der Veranstaltungsreihe, zu der der Verein Sigwardsweg, der Dombau-Verein Minden und die Erwachsenenbildung des Kirchenkreises Minden gemeinsam aus Anlass des Jubiläums „10 Jahre Sigwardsweg“ in den vergangenen Monaten eingeladen hatten.

Ritualstrukturen und Pilgererfahrungen

Die Pilgerforschung, der sich der Soziologie und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter widmen, geht der Frage, welche Verbreitung das mittelalterliche Pilgertum in Europa hatte, ebenso nach, wie Ritualstrukturen, der Darstellung von Pilgererfahrungen in den Sozialen Netzwerken oder den Auswirkungen auf die Körperfunktionen von Pilgern. Speziell kümmerte sich das Team um Kurrat auch darum, warum Menschen pilgern und was nach dem Pilgern mit ihnen passiert. Selbst die Bedeutung von Pilger-Tattoos wird erforscht.

Dabei wird auch deutlich, wie stark das Pilgertum besonders auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zugenommen hat. Wurden 2008 noch rund 125.000 registrierte Pilger gezählt, waren es 2018 bereits etwa 330.000. In diesem Jahr wird mit mehr als 350.000 Pilgern gerechnet. Die Registrierungsstelle im Erzbistum Santiago de Compostela geht davon aus, dass es im nächsten Heiligen Jahr 2021 über 560.000 Menschen sein werden.

Positive Entwicklung beim Pilgern auf dem Sigwardsweg

Und auch in Deutschland ist der Trend zum Pilgern ungebrochen. Nach der Veröffentlichung des Buches von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“ im Jahr 2006 stieg die Zahl der Pilger um 70 Prozent. 2018 waren es knapp 26.000 Deutsche, die sich auf den Weg nach Santiago machten. Doch nicht nur der Jakobsweg steht im Fokus. Auch im Heimatraum würden die Menschen zunehmend affin für das Pilgern, erklärte der Vorsitzende des Dombau-Vereins Minden, Hans-Jürgen Amtage, in seiner Begrüßung. Der überkonfessionelle Förderverein betreibt gemeinsam mit dem Kirchenkreis Minden das Pilgerbüro im Domschatz am Kleinen Domhof, wo in den Sommermonaten bis zu 200 Anfragen zum Sigwardsweg, der durch das Mindener und das Schaumburger Land führt, aufliefen.

Christian Kurrat verwies darauf, dass es fünf unterschiedliche Pilgertypen gäbe, die ihr Leben bilanzierten, eine Krise bewältigen wollten, eine Auszeit nähmen, den Übergang zu Neuem wagten oder gar einen kompletten Neustart vornehmen würden. Unterschiedlich seien die Verhaltensweisen auf dem Weg. Während die einen vor allem in sich gehen wollten, suchten andere die Gemeinschaft oder Inspiration. Mit Blick auf das Sozialgefüge zuhause wollten einige Menschen eine Art Vermächtnis hinterlassen, andere sich präsentieren oder ihre Bereitschaft zum Neustart demonstrieren. Buße, Entschleunigung, die Selbstprüfung und die Befreiung aus der Krise seien weitere Aspekte.

Trotz Verweltlichung Rückgriff auf religöse Praktiken

Für viele Menschen weise ihre Pilgerschaft eine immense biografische Bedeutung auf, zog Christian Kurrat ein Fazit. Und er stellte fest, dass trotz einer vermeintlichen Verweltlichung der Rückgriff auf religiöse Praktiken ein wesentlicher Bestandteil des Pilgerns sei.

In der Veranstaltungsreihe von Sigwardsweg-Verein, Dombau-Verein und Kirchenkreis stellten die Mindener Heinz-Dieter Böttger und Friedrich Rodenberg ihre Erfahrungen auf dem Jakobsweg ebenso vor, wie der körperbehinderte Unternehmensberater Felix Bernhard. Der war als erster Rollstuhlfahrer allein 800 Kilometer auf dem Pilgerweg unterwegs. Der Theologe Andreas Müller von der Theologischen Fakultät der Uni Kiel berichtete über die Wege zum Heil beim Pilgern im Christentum.

Uwe Marczinzik dankt allen Aktiven

Der Vorsitzende des Vereins Sigwardsweg, Uwe Marczinzik, zog nach einem ökumenischen Gottesdienst im Dom mit Superintendent Jürgen Tiemann und Pastor am Dom, David Sonntag, eine positive Bilanz des Pilgerns im Heimatraum. Bei gemeinsamen Touren zeige sich, mit welcher Innigkeit sich die Menschen auf den spirituellen Weg machten. Gleichzeitig dankte der Pfarrer im Ruhestand allen Aktiven, die den Sigwardsweg mit all seinen bedeutenden Stationen vom Kloster Loccum bis zur Grabeskirche von Bischof Sigward in Idensen möglich machten. Unter anderem der Tourismusbereich des Kreises Minden-Lübbecke und die Tourismusmarketing Schaumburger Land bringen sich in die Unterhaltung des 170 Kilometer langen Pilgerweges ein, der an den 25. Bischof von Minden, Sigward (1120-1140), erinnert.

www.sigwardsweg.de

 

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